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Die Rolle der Religion im Staat. Hegel als christlicher Philosoph.

Niemand stellt in Frage, dass Hegel einen wesentlichen Beitrag zum Selbstwissen und zur sozialen Praxis der Europäer geleistet hat. Doch die politische Lebenskraft des Hegelianismus wird nach wie vor unterbewertet. Die weitere intellektuelle Öffentlichkeit stellt sich verschwommen einen starken, idealisierten und geradezu angebeteten Staat vor. Und auch der Wortlaut der hegelschen Schriften verweist auf ein Staatskonzept, das in der modernen Politik eher nichts zu suchen hat. So spricht Hegel von der „Existenz des Staates als Anwesenheit Gottes in der Welt”. Diese eifrige, religiös gefärbte Bejahung des Staates mag negative Assoziationen wecken, denn üblicherweise wird in unseren Breiten Gott angebetet, nicht der Staat. Vor dem Hintergrund des in Europa gemeinhin akzeptierten Prinzips der Trennung von Staat und Kirche erhebt sich zudem die beunruhigende Frage, ob Hegel seiner Philosophie nicht den Status einer Religion verleiht. Beabsichtigt er möglicherweise, die Tugend politischer Klugheit durch ein religiöses Dogma und die Philosophen durch Priester einer hegelianischen Religion zu ersetzen? Hegel sah sich selbst als Philosophen mit christlicher Identität, als Protestanten, und war als solcher dem Katholizismus gegenüber kritisch eingestellt (in seinen Texten finden wir ausführliche Begründungen für diese Distanzierung). Die Verbindung zwischen modernem Staat und den Grundprinzipien christlicher Religion galt Hegel als Selbstverständlichkeit. Doch der Teufel steckt im Detail. Im vorliegenden Referat wird versucht, folgende Fragen zu beantworten: Wie sind Ort und Rolle der Religion im vernünftigen modernen Staat zu verstehen? Was unterscheidet einen freien Staat von einem konfessionellen Staat? Ist Hegel Anhänger der Trennung von Staat und Kirche? Besonders hervorhebenswert erscheint mir der Umstand, dass Hegels allgemeine Ansichten zum Staat-Kirche-Verhältnis längst in unser modernes Denken eingegangen sind. Wer sich also allzu eng an den Wortlaut der Schriften hält, wird leicht den Geist verkennen.

 

Religionskritik

 

Gestatten Sie, dass ich mit einem Hegel-Zitat beginne: Die Religion ist das Verhältnis zum Absoluten in Form des Gefühls, der Vorstellung, des Glaubens”.[1] Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass Hegel die Religion sowohl aufgrund ihres Wahrheitsgehalts affirmiert als auch für die unvollkommene, subjektiv-emotionale Form kritisiert, in der sie die Wahrheit erfasst. Für die Beziehung zwischen Staat und Religion erscheint insbesondere die Kritik an der Form der Religion untersuchenswert. Diese Form ist nämlich schädlich, wenn nicht gefährlich für den Staat. Hegel wirft der Religion vor, dass aus ihrer Sicht die vergängliche Welt an Wert verliert. Für die Religion sei der Staat lediglich „vanitas vanitatum”, ein „mechanisches Skelett”, eine „Institution notwendigen Übels”, die nichtgeistliche Ziele verfolgt. Eine so verstandene Religion kann es erschweren oder unmöglich machen, den Angelegenheiten des Staates die ihnen gebührende Würde zu verleihen. Wenn aus Sicht der Religion die Welt nichts wert ist bzw. sie vollends verschwindet, wird zugleich die Existenz jener Wahrheit, die im Staat zum Ausdruck kommt, in Frage gestellt. So projiziert der religiöse Mensch seine subjektive Überzeugung, wie die Welt sei und wie sie sein solle, auf die Wirklichkeit, anstatt diese kennenzulernen. In der Religion macht sich daher immer ein Moment der Bequemlichkeit, Faulheit und Selbstzufriedenheit bemerkbar. Es ist nämlich ein Leichtes, Selbstzufriedenheit aus einer „Wahrheit” zu beziehen, die mit objektiver Erkenntnis nichts zu tun hat und stattdessen in subjektiven Gefühlen, Vorstellungen und Träumereien versinkt. Aus dieser Einstellung geht eine Oppositionshaltung gegen den Staat, seine Ordnung und seine Ethik hervor. Hegel spricht hier von „Albernheit und Abscheulichkeit”: Solche Menschen schweben in Wolken.

            Hegel nimmt auch eine kritische Stellung gegenüber der Monopolisierung der Ethik durch die Kirche ein. Hier wolle die Religion, und nicht die soziale Welt, letztgültig darüber entscheiden, was gut, wahr und gerecht ist. Zwar trifft die Religion in diesem Bereich überaus gern Entscheidungen, doch muss dies keineswegs heißen, dass sie Recht hat! Manche Formen von Religionen mag man, wie Hegel schreibt, getrost als „die härteste Knechtschaft unter den Fesseln des Aberglaubens und die Degradation des Menschen“[2] bezeichnen. Und Hegel merkt an: Mitunter braucht es eine “rettende Macht”, die Vernunft und Selbstwissen gegen die Verwilderung und das Böse der Religion verteidigen kann.

            Ein weiteres Problem ergibt sich dadurch, dass die Kirche Freiheit und Respekt für die von ihr verkündete Wahrheit verlangt. Dies birgt Gefahren für eine sich weltlich verstehende Wissenschaft. Die Religion ist, wie wir wissen, in der Lage, die Wahrheit zu verraten und die Wissenschaft mitsamt ihren Errungenschaften zu vernichten. Als Beispiele führt Hegel die von der Kirche initiierte Verbrennung Giordano Brunos und den Casus Galilei an.

            Zudem steckt der Same des Fanatismus in der Religion. Fanantismus erwächst aus einem subjektiven Willen, der von seiner Absolutheit überzeugt ist. Wird ein arbiträrer Wille von absoluter Gewissheit angetrieben, so verfällt er in Fanatismus. Wenn der Mensch über Gott verfügt, so ist ihm von vornherein alles gegeben, um das Wesen von Recht und Institutionen des Staates zu durchschauen, Urteile über sie zu fällen und ihnen vorzuschreiben, wie sie auszusehen haben. Da solche Ansichten aus einem frommen Herzen stammen, sind sie – ironischerweise – unfehlbar und unwiderrufbar. So werden menschliche Anliegen und Ansichten zur einzig richtigen Weltsicht. Man kann ihnen nicht einmal Flachheit oder Ungerechtigkeit vorwerfen, gehen sie doch auf eine Religion zurück, deren Garant Gott selbst ist. In Wirklichkeit aber entstammen sie nichts anderem als subjektiver Vorstellung, die sich an Gott berauscht und kritische Urteile über eine verdorbene, sündige und vergängliche Wirklichkeit formuliert. Der religiöse Fanatismus verwirft daher schließlich die vorgegebenen staatlichen Strukturen und die Rechtsordnung als etwas, was seiner verinnerlichten Vorstellung nicht entspricht und ihm mithin als gefährlich gelten muss.[3]

            Alles andere als banal ist Hegels Feststellung, dass die Religion insbesondere in Zeiten der Not, des Chaos und der Unterdrückung Anklang und Unterstützung findet. Sie gleicht Unrecht aus, bringt Trost und vermittelt das Gefühl von Sicherheit und sinnerfülltem Leben. In einer solchen Situation ist die Religion im Leben des Individuums nicht deswegen stark, weil die Beziehung Staat-Kirche richtig verstanden wurde, sondern deswegen, weil hier Angst, Orientierungslosigkeit, das Gefühl von Unglück oder aber pure Berechnung (“Wirf Deine Sorgen auf Gott”) den Ausschlag geben. Wenn sich Religion auf diese Weise breit macht, so nährt sie sich von Egoismus und Eigenliebe, nicht aber von der Sorge um das Gemeinwohl, die das Wesen des Staates ausmacht.

            Von Belang ist hier auch Hegels Kritik am Katholizismus, die wie folgt zusammengefasst werden kann: Der Katholizismus trennt religiöse und gesellschaftliche Interessen voneinander. Die Katholiken verbinden Heiligkeit, Gewissen und geistliche Entwicklung eher mit dem religiösen als mit dem gesellschaftlichen Leben. Sie sind überzeugt, dass Religion und Staat verschiedene Inhalte verfolgen und aus verschiedenen Quellen stammen, gerade so, als gäbe es zwei Wahrheiten, eine religiöse und eine soziale. Ausdruck dessen ist die Einteilung der Menschen in Geistliche und Laien. Erstere halten sich aus dem weltlichen Leben heraus, haben keine Ehefrauen und Kinder sowie – zumindest angeblich – kein Eigentum. Letztere verzichten nicht auf das weltliche Leben, sind jedoch dadurch in ihrem Gottesstreben geschwächt und bedürfen der Vermittlung des Klerus. Durch diese Teilung trägt der Katholizismus nicht zur Stärkung des ethischen Engagements für die Angelegenheiten des Staats bei, behindert die Entwicklung prosozialer Einstellungen und bringt mitunter sogar das geistliche Engagement in eine Frontstellung gegen den Staat. Der Katholizismus ordnet das Individuum einer starken Organisation unter und untergräbt somit jene Wahrheit, dass der Mensch in Christus zu einem absoluten Wert geworden ist, dass er allein seiner Vernünftigkeit und seinem Gewissen verpflichtet ist, nicht aber einer institutionellen Kirche. Soviel zur Religionskritik.

 

Affirmation der Religion. Einheit und Verschiedenheit

 

Auf der anderen Seite hat Hegel ein affirmatives Verhältnis zur christlichen Religion, da in ihr das Prinzip der absoluten Freiheit des Menschen in Gott zum Tragen kommt. Doch erst mit der Reformation beginnt die Christenheit dieses Prinzip zu verwirklichen. Jetzt erst wurde der Mensch frei, unterstand keiner kirchlichen Institution mehr und wurden zum Herrn seiner Vernunft und seines Gewissens.[4] Die protestantische Religion erhebt den vernünftigen Willen und das vernünftige Handeln zum obersten Prinzip. Beide Welten, die reformierte Religion und der Staat, enthalten dasselbe, und zwar “Wahrheit und Gottesgebote”. Der Wert des Protestantismus liegt darin begründet, dass individuelle Freiheit und staatliches Leben hier miteinander harmonieren können. Sowohl im religiösen als auch im staatlichen Bereich wird jedem Menschen gleichermaßen Freiheit zugestanden. Für den Staatsbürger, der nach den Prinzipien der christlichen Religion lebt, befindet sich die begrenzte Sphäre des Staates nicht mehr im Widerspruch mit der ewigen und letztgültigen Berufung des Menschen. Im Gegenteil, der Staatsbürger gelangt zum Bewusstsein dessen, dass Moral und Gerechtigkeit im Staat begründet und göttlich sind. Dies ist eben die Einheit von Staat und Religion.

            Seit Anbruch der modernen Welt verschwindet die dem Staat gegenüber negativ eingestellte Religiosität aus dem öffentlichen Raum. Der Staatsbürger ist religiös, insofern er ehrlich ist und seine Lebenspflichten beispielsweise als guter Vater erfüllt. Nach dem Muster der protestantischen Religion ist der soziale Mensch ein weltlich engagiertes Subjekt und verfügt über ein kreatives Potenzial, das in der Religion verwurzelt ist. Dies ist möglich, denn – wie Hegel schreibt – „es gibt kein heiliges, kein religiöses Gewissen, das vom weltlichen Recht getrennt oder ihm gar entegegengesetz wäre”.[5] Die Einheit von Staat und Religion ist für Hegel nicht ein Totalanspruch der Religion, die in die weltliche Wirklichkeit eindringt, sondern eher die Bereicherung des weltlichen Lebens durch gewisse Werte. Der Grund hierfür ist der, dass im Protestantismus die Tendenz zur Negierung alles Weltlichen rückläufig ist.

            Mehr noch, Hegel vertritt die Meinung, dass kaum eine andere These soviel Konflikte und intellektuelles Durcheinander bewirken kann wie jene, dass die Religion Grundlage des Staates sei. Daher muss, wenn wir von der Einheit von Staat und Religion als höchstem Ideal sprechen, unbedingt Folgendes bedacht werden: Hierbei muss sich auch jener Unterschied konstituieren, der in der Praxis die Trennung von Staat und Kirche bedeutet. Hegel drückt dies so aus: Kirche und Staat [stehen] nicht im Gegensatze des Inhalts der Wahrheit und Vernünftigkeit, aber im Unterschied der Form”.[6] Der Unterschied zwischen Staat und Religion ist ein Unterschied der Form der Vernünftigkeit. Die Religion verfügt über “Vernunft in Seele und Herz”, dem Staat ist die Vernunft ein “Tempel menschlicher Freiheit”. Und Hegel fügt dem hinzu: „Es ist daher so weit gefehlt, daß für den Staat die kirchliche Trennung ein Unglück wäre oder gewesen wäre, daß er nur durch sie hat werden können, was seine Bestimmung ist, die selbsbewußte Vernünftigkeit und Sittlichkeit. Ebenso ist es das Glücklichste, was der Kirche für ihre eigene und was dem Gedanken für seine Freiheit und Vernünftigkeit hat widerfahren können”.[7]

            In analytischen Untersuchungen zu Hegels Texten wird immer wieder darauf hingewiesen, dass hier die Einheit des Staates durch die Bürgergesellschaft bedroht sei. Dabei wird vergessen, dass dieses Auseinanderdriften auch die Kirche und ihren Zerfall in Fraktionen des Protestantismus betrifft. Die Trennung von Staat und Kirche wurde gerade dadurch ermöglicht, dass beide keine monolithischen Strukturen mehr waren, bzw., anders ausgedrückt, dass beide das vernünftige Individuum als ihre Grundlage anerkannten. Nach Hegel musste der Staat, um zur “sich wissenden, sittlichen Wirklichkeit des Geistes” zu werden, sich von der Form des Glaubens distanzieren. “Diese Unterscheidung”, schreibt Hegel, “tritt aber nur hervor, insofern die kirchliche  Seite in sich selbst zur Trennung kommt”.[8]

            Die geistliche Einheit der protestantischen Kirche beruht auf Unterschieden: jenem zwischen den einzelnen Fraktionen, vor allem aber auf der Anerkennung der menschlichen Freiheit im Umgang mit Gott. Durch diesen Umstand konnte sich der Staat als souveräne Sphäre konstituieren, in der sich die Idee Weltlichkeit verleiht. Interessanterweise bemerkt Hegel auch, dass im östlichen Despotismus die Einheit von Staat und Kirche nicht durch einen Unterschied konstituiert wird und der Osten somit despotisch ist.

            Der Unterschied zwischen Staat und Kirche bewirkt, dass die politisch wenig bedeutsame Privatsphäre zu jenem Ort wird, an dem sich die Religion manifestiert. Nichtsdestoweniger benötigt aber die Staat die Religion als Quelle der Sittlichkeit, als Kraft, die das Gewissen formt und das Verhalten der Staatsbürger bestimmt. Der Mensch bezieht sich in der Religion, durch Anschauung und vorstellende Erkenntnis, auf Gott als etwas Unbegrenztes, das Ursache und Wille ist, von dem alles – auch die Existenz des Staates – abhängt. Alles wird durch Gott “rechtfertigt und beglaubigt”, so dass Staat, Recht und sämtliche Pflichten durch die Religion ihre höchste Bestätigung erhalten. Die Religion führt zusammen und verleiht dem Leben des Staats seine Würde aufgrund eines absoluten Prinzips, nämlich Gottes. Die Religion ist die metaphysische Grundlage des Staates, nicht aber “das Regierende”.[9] Der vernünftige Staat ist nämlich “in sich unendlich”, nicht weniger als die Religion!

            Auch die Religion ist auf den Staat angewiesen, denn im Jenseits wird sie selbst nicht mehr gebraucht. Sie braucht den Staat, um sich überhaupt eine äußere Gestalt zu geben und ihre Rolle zu erfüllen: Kult, Aktivitätsformen, Infrastruktur. Der Staat schützt die Religion auch vor ihren Feinden. Er ist ein Gegengewicht zu den unermüdlichen Betern, die “in Wolken schweben”. Der Staat gründet sich nicht auf subjektive Überzeugungen und Glaubensinhalte, sondern auf das Reale, Allgemeine, Vernünftige, historisch Gewachsene. Letztlich braucht die Religion den Staat ebenso wie der Staat die Religion. Die Einheit hebt die Einseitigkeit beider Bereiche auf. Der Unterschied hingegen bewirkt, dass beide Sphären in ihrer Spezifik und in ihren Rollen als real und gewichtig gelten können. Moderne ist nichts anderes als Einheit in Verschiedenheit.

            Hegel vertritt die Ansicht, dass ein starker Staat durchaus in der Lage ist, sich vor unvernünftigen, sektiererisch-orthodoxen Formen der Religion zu schützen. Deshalb wohl ist er ihnen gegenüber so liberal eingestellt. Er glaubt, dass die Bürgerrechte, durch die sich die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen ändern, die Isolation der religiösen Gruppen durchbrechen können. So stellt er sich energisch gegen jene, die den Juden Bürgerrechte absprechen: Dieser Ansatz habe sich “am törichtsten erwiesen”. Eine solche Politik bewirke nur, dass die Juden als religiöse Gruppe isoliert würde, was ihnen anschließend wiederum vorgeworfen werde. Ähnlich äußert sich Hegel über Quaker und Wiedertäufer, die ihrer Pflicht, für die Verteidigung des Staates Sorge zu tragen, auch durch alternative Aktivitäten nachkommen könnten. Diese Idee eines Wehrersatz- bzw. Zivildienstes ist heute europaweit umgesetzt. Was jedoch ist zu tun, wenn die Mitglieder einer Sekte sämtliche Pflichten gegenüber dem Staat ablehnen und folglich nicht beanspruchen können, als Staatsbürger anerkannt zu werden? Hegel meint hierzu, dass ein starker Staat solche Anomalien ignorieren darf. Entscheidend sei die Kraft der Sittlicheit. Wenn der Staat mit seinem Rechtssystem nicht allzu rigoros auf die Bürger losgehe, könne er letzten Endes den Widerwillen der Fanatiker verringern und auflösen. Nun, es fällt nicht leicht, hier die Bemerkung zurückzuhalten, dass Hegels diesbezügliche Ansichten wohl eine etwas zu reichlich geratene Dosis Optimismus enthalten.

 

Zusammenfassung. Die Freiheit des Christen.

 

Die Hegelsche Schule kritisiert und rechtfertigt die Religion in einem, da ja das Christentum selbst zweideutig ist. Einerseits ist diese Religion in den Besitz der Wahrheit von der absoluten Freiheit des Menschen gelangt. Andererseits vermochte sie diese Wahrheit nicht auf die Gesellschaft anwenden. Für das Christentum ist der Mensch ist frei in seinem Verhältnis zu Gott, nicht aber im Staat. Die frühen Christen ließen sich geradewegs von antipolitischen Tendenzen überwältigen. Einige von ihnen, etwa Paulus von Tars, entdeckten die Freiheit in Innern des Menschen, also nicht wie die Griechen im Staat. Hegel bemerkt, dass bereits Sokrates diese Art von Freiheit antizipierte. Augustinus stellte den irdischen und den göttlichen Staat gegeneinander, und der Katholizismus ist bei dieser Frontstellung geblieben. Hegel hingegen definiert den christlichen Freiheitsbegriff so um, dass er vom gesellschaftlichen Leben nicht mehr getrennt, sondern mit ihm vereint ist. Die Idee der Freiheit kann sich de facto ausschließlich in einem Staat verwirklichen, in dem der Staatsbürger zum politischen Teilsouverän der staatlichen und religiösen Ordnung geworden ist.

            Obwohl Hegel dem Protestantismus gegenüber nicht völlig unkritisch war, schrieb er ihm doch mit aller Sicherheit die Rolle zu, als erster vernünftige religiöse und staatliche Ordnungen geschaffen zu haben. Hegel sieht den Protestantismus auf seine eigene Weise und entfernt aus ihm die lutherische Opposition zwischen Glaube und Vernunft. Er erkennt hier eine vernünftige Religion, die zwischen absoluten und irdischen Anliegen Einheit stiftet. [10] Es existiert aber nicht nur die Einheit von Staat und Kirche, sondern auch ein Unterschied zwischen ihnen, der die Souveränität beider Bereiche und ihre auf Sympathie gegründete Parität garantiert. Die in gegenseitiger Wohlgesonnenheit vollzogene Trennung von Staat und religiöser Gemeinde finden wir am besten in den folgenden Worten Hegels beschrieben: Die Bestimmung dieses Verhältnisses ist einfach”. Damit ist gemeint: Die Religion verhält sich gegenüber dem Staat freundlich, der Staat hat die Pflicht, die religiöse Gemeinde zu unterstützen und ihr seinen Schutz angewähren zu lassen. Für Hegel geht diese Trennung nicht auf Feindseligkeit zurück. Hier besteht nicht das Ziel, einen stark laizisierten Staat nach französischem Muster aufzubauen. Hegel ist geradezu der Meinung, dass der Staat von den Menschen verlangen kann, einer Religionsgemeinschaft anzugehören. Dabei darf er es jedoch auch nicht übertreiben. Die konkrete Gemeinschaft ist immer noch vom Individuum in Übereinstimmung mit seinem Gewissen, das dem Staat nicht untertan ist, auszuwählen. Es gibt aber keine Gemeinschaft von Gläubigen ohne Staat und es gibt keinen Staat ohne Religionsgemeinschaft.

            Hegel affirmiert einen starken, mit weitgehenden Kompetenzen versehenen Staat auch in pädagogisch-ethischen Fragen (ähnlich wie im griechischen Altertum). Diese verleihen dem Staat einen erhabenen und vollkommenen Charakter. Hegel will im Staat nicht ein seelenloses, atomisiertes, mechanisiertes System gegenseitiger Beziehungen sehen. Für eine solche Vision kritisierte er die Anhänger des Gesellschaftsvertrags. Hegel sucht im Staat „das an und für sich seiende Göttliche”, „absolute Autorität und Majestät”.[11] Trotz dieser emphatischen Haltung scheint es unangebracht, davon zu sprechen, dass die Hegelsche Schule einen wie auch immer gearteten Kult des Staates zu begründen versucht. Die Hegelianer kehren nicht zu einer Religiosität zurück, die sich in Kult, Ritualen und Einweihungshierarchien erschöpft. Frei von diesen Elementen ist bei Hegel auch die Sphäre von Philosophie und Politik. Der Heglismus ist keine Geheimlehrer, die Hegelianer werden nicht in die Praxis einer “höheren” Philosophie eingeweiht und sind keine staatlich priviligierten Priester. Da jedoch ein Staatskult keineswegs mit Ritualen und Einweihungshierarchien einhergehen muss, können Hegels emphatische Worte durchaus, wie ich glaube, Haltungen provozieren, die einem Staatskult und einer Unterordnung des Individuums unter das Ganzen vorbauen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass solche Haltungen mit Hegels Ansichten unvereinbar sind. Hegel affirmiert einen Staat, in dem der Mensch frei geworden ist, weil er kein passives, dh. unterdrücktes Element der Gesamtheit des Staates mehr ist, sondern dessen vernunftbegabter Träger.

 

Dane bibliograficzne publikacji:
Katarzyna Guczalska, 
Hegel als christlicher Philosoph. Die Rolle der Religion im Staat, in: Hegel-Jahrbuch 2008, Hg. v. A. Arndt, P. Cruysberghs u. A. Przylebski, Berlin: Akademia Verlag 2008, s. 259-264.

 

 


[1] G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main 1970, § 270, S. 418. 

[2] So verehren die Ägypter und Hindus Tiere, vgl. ebd., S. 416.

[3] Hegel galt sich selbst als Gegner eines orthodox verstandenen Protestantismus und kritisierte die Ansicht, dass das Recht und die Institutionen des Staates von den Rechtgläubigen nicht respektiert werden müssten. Der Fanatismus geht laut Hegel auf die Überzeugung zurück, dass der Staat und seine Instrumente die Verwirklichung einer höheren, “außerweltlichen” Wahrheit behindern. Hinzu komme die Ansicht, dass das Recht nicht für die Rechtgläubigen gesetzt wurde.

[4] Vor der Reformation konnte dieses Prinzip nicht umgesetzt werden, da die Kirche an Fehlern festhielt- Hegel verweist etwa auf die mittelalterliche Kirche, die den Feudalstaat unterstützte. Dieser behandelte einige Menschen – insbesondere die Bauern – als Unfreie.

[5] G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Franfurt am Main1986, S. 539.

[6] G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 270, S. 425.

[7] Ebd, S. 428.

[8] Ibidem.

[9] Und so besitzt der Staat entgegen dem, was die Kirche sagt, ein Recht auf “die eigene Einsicht, Überzeugung und überhaupt Denken dessen, was als objektive Wahrheit gelten soll”. Man darf also annehmen, dass Hegel, wäre er heute Europaparlamentarier, für die Finanzierung von Stammzellenforschung stimmen würde, im Unterschied zu einigen polnischen Abgeordneten. In seiner nüchternen Distanz stellt Hegel fest, dass die kirchliche Lehre eher in einem Kult zum Ausdruck kommt und dazu neigt, Bewusstseinsbildung links liegen zu lassen. Wissenschaft und Lehre befinden sich laut Hegel auf der Seite des Staates, nicht der Kirche.

[10] Aus katholischer Sicht mag es Hegel zum Vorwurf gereichen, dass es die Protestanten waren, die göttliche und menschliche Welt trennten, indem sie Gottes Transzendenz in übertriebener Weise hervorhoben und das Mittun des Menschen im Heilsgeschehen ignorierten. In radikaler Form findet sich dieses Denken bei Jean Calvin und Théodore de Bèze.

[11] G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258, S. 400.